Hartmann / Philosophische Grundlagen 2.4.

    Medienzivilisation


    "Der Aufstieg der unteren Klassen zur (formal) aktiven Teilnahme am öffentlichen Leben 
    und die Erweiterung sowohl des Informationsflusses als auch der Informationsbestände haben 
    die neue anthropologische Situation der 'Medienzivilisation' hervorgebracht. 
    Innerhalb dieser Zivilisation werden alle Angehörigen der Gemeinschaft in unterschiedlichem 
    Maße zu Adressaten einer intensiven, ununterbrochenen Produktion von Botschaften . . . " 
    - Umberto Eco

    Das Stichwort von der neuen anthropologischen Situation zeigt einen Perspektivenwechsel in der Bewertung der Medien an, der sich aber erst in den fünfziger/sechziger Jahren durchzusetzen beginnt. Kritisierte Günther Anders die allumfassende Ikonomanie, das Zum-Bild-werden der Welt, so lieferten Horkheimer und Adorno  ihre radikale "Kritik der Kulturindustrie", die alles zum verkäuflichen Produkt werden läßt. Dies waren erste Versuche der vierziger/fünfziger Jahre, auf die neuen Phänomene der Massenkommunikation unseres Zeitalters theoretisch zu reagieren. Eine differenzierte Medientheorie im Zeichen kulturellen Wandels ließen diese Positionen aber nicht zu. Als handelte es sich um einen natürlichen Prozeß, konstatiert jene Kritik lakonisch, daß "keine Apparatur der Replik" sich entfaltet habe. Die technische und soziale Entwicklung hat diese Diagnose mittlerweile Lügen gestraft. 

    Die Technologie eröffnet aber auch neue, unerwartete Perspektiven. Mit der Mondlandung, so Anders, kommt es zu einer globalen Selbstbegegnung und damit zum Bewußtseinswandel unserer Zivilisation: 

    "Zum ersten Mal ist es geschehen, daß die Erde, vor einem Spiegel stehend, reflexiv wurde, daß sie zum Selbstbewußtsein erwachte, mindestens zur Selbstwahrnehmung. Da sie sich von außen sah, als Objekt . . ." (Anders: Der Blick vom Mond, §33).

    Die von der Aufklärung abstrakt eingeklagte Reflexivität nimmt die Form einer massenmedialen Selbstbespiegelung an, als eine massenhafte Selbstinzenierung. Glatter Betrug oder neue Interpretation, die zu mehr Erkenntnis führt? Hier läßt sich, zumindest in der Fragestellung, eine Parallele ziehen zum psychoanalytischen Ansatz Jacques Lacans, nach der (individuelle) 'Entwicklung' Integration ins symbolische System bedeutet "Der Spiegel ist ein Schwellenphänomen, das die Grenzen zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen markiert." (vgl. in Eco 1987) Entwicklung heißt, wenn das Spiegel-Ich zum sozialen Ich wird. Der Spiegel ist dabei nur ein Phänomen, über das sich eine neue symbolische Matrix manifestiert.

    Welche Schwelle wird hier kulturell überschritten? Läßt sich das Konzept einer bedrohten "Hochkultur" im Medienzeitalter noch verteidigen? Die "Massenkultur" bedeutet auch in diesem Sinn eine Krise des bürgerlichen Kulturmodells. Tasache ist, daß die kulturelle Kommunikation ihr Gesicht wandelt: die Medien können aber nicht nur als Ursache, sondern sie müssen auch als Ausdruck dieser Veränderung gesehen werden. Medien sind schließlich nichts der Gesellschaft Äußerliches, kein von außen aufgezwungenes Produkt, sondern Teil dieser Gesellschaft (der Kulturprodukte) selbst. Rückblickend auf verschiedene Formen der Kritik der Massenkultur, schreibt Umberto Eco in den sechziger Jahren, in jener Kritik rumore "das Heimweh nach einer Epoche, in der die Werte der Kultur das Erbteil und der Besitz einer einzelnen Klasse waren und noch nicht jedermann offenstanden."

    Eco klassifiziert die Kritik in zwei Formen, Apokalyptiker und Integrierte, ohne jedoch für eine Seite Partei zu ergreifen. Ihm kam es darauf an, die massenkulturellen Phänomene für eine kulturwissenschaftliche Analyse zu öffnen und dabei auch die Interpretenseite gelten zu lassen ('semiotische Guerilla').

    Die apokalyptische Kritik nimmt viele Formen an, auch avantgardistische. Guy Debord etwa veröffentlicht im Rahmen der Situationistischen Internationale 1967 mit La société du spectacle eine Radikalkritik der sich formierenden Mediengesellschaft, ein manifestartiges Werk, auf das viele spätere kulturtheoretische Schriften implizit Bezug nehmen. Grundlegende Thesen: 
     

    • Die realen Sozialbeziehungen werden durch ihre Repräsentationen überlagert: nicht nur wird Sein durch Schein ersetzt, sondern auch dieser durch mediales Erscheinen
    • Der Konsument hat den Bürger ersetzt
    • Die Mediengesellschaft ist eine Warengesellschaft
    • Geld dominiert als Äquivalent einer generalisierten Gleichheit
    • Notwendigkeit des Widerstandes, einer revidierten Aneignung (Wirkung = Paris, Mai '68)
Die "Gesellschaft des Spektakels" ist paradigmatisch für ein mediales Broadcasting, denn sie konzentriert sich demonstrativ auf das Einmalige und Besondere. Es gibt nur die inszenierte Darstellung und kein Feedback, keine wirkliche Interaktion, keine Partizipation des Publikums. Es ist eine geschlossene Gesellschaft der einkanaligen Sende-Hoheit. Eine darauf fixierte Kulturkritik weist freilich einige blinde Flecken auf. Einer davon ist die implizite Klage über den Verlust der intellektuellen Interpretationshoheit.
 
Literatur:
Manfred Fassler: Was ist Kommunikation? 1997, S.94ff
Umberto Eco: Apokalyptiker und Integrierte. Frankfurt 1984
Guy Debord: The Society of the Spectacle (1967), New York 1994
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (1944), Frankfurt 1997
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© Frank Hartmann 1999