Hartmann: Philosophische Grundlagen (Zusatz)

      Zur Kritik der Sprachabhängigkeitsthese


      Sind die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt?

      Wenn Sprache als einziger Ausdruck von Bewußtsein gesehen wird, dann gibt es auch kein Denken (keine Vernunft) ohne Sprache. Die Abhängigkeit des Denkens von der Sprache (Sprachrelativismus) gehört zu einem beliebten Dogma der Kommunikationsanthropologie, das nur selten hinterfragt wird: das jeweilige Weltbild hänge notwendig mit der jeweils verwendeten Sprache zusammen. Verschiedene Sprachwelten bedeuten auch verschiedene Lebenswelten. Der Name einer Sache beinflußt unser Verhalten. Wenn sprachliche Begriffe fehlen, läßt sich etwas auch nicht denken, und umgekehrt: trivial gesagt haben Eskimos mehr Wörter für Schnee als wir und sehen auch ihre Lebenswelt dadurch differenzierter.
      Diesen Ansatz, dem wir unter der Bezeichnung Sapir-Whorf-Hypothese im kommunikationswissenschaftlichen Einführungsunterricht begegnen, hat Stephen Pinker in The Language Instinkt (Lit.) einer scharfen Kritik unterzogen.
       

      Kritik der Sapir-Whorf Hypothese
       

      Hintergrund: Als Ende der fünfziger Jahre einige Aufsätze von Benjamin Lee Whorf  (der 1941 verstarb) herausgegeben wurden, feierte man ihn bald als bedeutenden Linguisten und nannte seinen Namen zusammen mit Edward Sapir (seinem Lehrer 1931 in Yale) und Franz Boas (dem 1942 verstorbenen Anthropologen, der in mehreren Expeditionen die Kulturen der nordamerikanischen Indianer und die der Eskimos untersucht hatte). Das intellektuelle Argument, das Boas und seine Schüler (darunter auch Margret Mead) vertraten, war wichtig: nichtindustrielle Kulturen sind keineswegs primitiv, sondern verfügen über elaborierte Sprach- und Wissenssysteme, und besitzen eine eigenes komplexes Weltbild. Daraus folgte die linguistische Relativitätsthese, als Teil eines intellektuellen Arguments gegen ein eurozentrisches Wissenschaftsbild. Argumentiert wurde gegen Universalisierungen, und auch gegen das "falsche Ideal einer Weltsprache", z.B. das einfache Englisch, mit dessen Durchsetzung "Denkmöglichkeiten" aufgegeben würden, "die, einmal verloren, nie zurückgewonnen werden können" (Whorf).

      Die deutsche Erstübersetzung von Whorf ging in den sechziger Jahren sogleich in jährlichen Neuauflagen in die Zehntausende. Wer hätte nicht von der These gehört, daß in einer Kultur nur über das nachgedacht werden kann, wofür diese Kultur auch die entsprechenden sprachlichen Begriffe bereitstellt? Daß demnach die Eskimos -zig Wörter für Schnee haben, wir aber nur ganz wenige, oder daß die indianische Hopi-Sprache keine Zeitbegriffe kennt. Seltsam genug, daß dieses zirkuläre Beweisschema für die These vom Sprachdeterminismus des Denkens akzeptiert wurde. Daß Sprache das Denken beeinflußt, diese Selbstverständlichkeit half denn auch der Akzeptanz auch der weitaus gewagteren Aspekte der Sapir-Whorf Hypothese.In der Folge vieler philosophischer Spekulationen über Sprechen und Denken beeindruckten natürlich die "empirischen Erkenntnisse" der Ethnologen und Anthropologen (die ihre Linguistik zeitgemäß als "exakte Wissenschaft" definierten). Nur leider waren die Daten über Sprache nicht unbedingt Daten über das Denken.

      Diese Forscher wollten vor allem den Eigensinn aller Kultur hervorheben und sich biologischer Begründungen entsagen: Sprache ist kein Instinkt oder etwas ähnlich Tierisches (wie noch J.G. Herder - Thema 4 - gemeint hatte), sondern eine definitive Kulturleistung. Alles ist Konvention. So schreibt Sapir als Konklusion aus der Beobachtung, daß sich in "allerprimitivsten" Indianerkulturen keine lautmalenden Worte finden, über das Wesen der Sprache:

      "Sprache ist eine ausschließlich dem Menschen eigene, nicht im Instinkt wurzelnde Methode zur Übermittlung von Gedanken, Gefühlen und Wünschen mittels eines Systems von frei geschaffenen Symbolen. Diese Symbole sind akustisch und werden mit Hilfe der sogenannten 'Sprechorgane' hervorgebracht." (Sapir 1972:17)

      B.L. Whorf seinerseits, der eigentlich Ingenieur war, hatte keine Theorie, sondern einige Artikel geschrieben, deren Folgerungen erst sehr viel später einer harten Prüfung unterzogen worden sind. Bekannt sind seine Thesen (nicht unbedingt Fakten!) über die Hopi-Indianersprachen, die er nie selbst untersucht hatte. Zentral ist dabei die Sprachabhängigkeit des Denkens bzw. der Sprachrelativismus (bis hin zum Sprachdeterminismus) aller unser Naturbeschreibungen:

      "Die Formulierung von Gedanken ist selbst kein unabhängiger Vorgang, der im alten Sinn des Wortes rational wäre, sondern wird von der jeweiligen Grammatik beeinflußt." Whorf schreibt weiter, das "linguistische System" sei kein "reproduktives Instrument zum Ausdruck von Gedanken, sondern formt selbst die Gedanken" (Whorf 1963: 12)

      Die Grammatik formt unsere Gedanken – sie bestimmt, wie wir die uns umgebende Natur analysieren. Kein Individuum hat die Freiheit, Natur völlig unparteilich zu beschreiben. Dabei kommt es zu unhintergehbaren Eigenheiten: "Die Annahme, ein Hopi, der nur die Hopisprache und die kulturellen Vorstellungen seiner eigenen Gesellschaft kennt, habe die gleichen - angeblich intuitiven und universellen - Begriffe der Zeit und des Raumes wie wir, scheint mir höchst willkürlich." (ebd., 102)

      Alle Bedeutung entstammt damit letztlich einem kulturrelativen linguistischen Ordnungssystem. Daß Sprache unser Denken limitiert, von der Verschiedenheit der Sprachen also auf die Verschiedenheit des Denkens schließen läßt, was jede interkulturelle Verständigung und letztlich auch ein universalistisches Weltbild unmöglich machen würde. Daß Denken von einem Äußeren gänzlich abhängt, ja daß ohne Sprache kein Denken möglich wäre, diese Grundannahme fügt sich dabei bequem in das behavioristische Grundschema der amerikanischen Wissenschaft der vierziger/fünfziger Jahre (wie auch das linear-mathematisch Kommunikationsmodell nach Shannon und Weaver). Es geht um die "Wissenschaftlichkeit", um die Linguistik als eine "exakte" Wissenschaft. Diese Bemühung vermischt sich mit der gleichzeitigen Absicht, einem wesentlichen Ergebnis der modernen Kulturanthropologie gerecht zu werden: daß Sprache, Rasse und Kultur in keinem notwendigen Zusammenhang stehen (Sapir) und daß der Glaube an die Überlegenheit des europäischen Sprachtyps wissenschaftlich nicht haltbar ist.

      Zusammengefaßt: Whorf hatte in vielem, was er als empirische Tatsachen über ethnische Sprachen präsentiert hatte, aufgrund einer unzureichenden wissenschaftlichen Grundlage geirrt. Seine berühmte These von der Sprachdeterminiertheit des Denkens unterliegt einem Zirkelschluß, der den Kulturrelativismus von Sprache und Denken schlecht begründet. Es ist kein Biologismus, wenn Sprache und Denken als koevolutionärerer Prozeß gesehen werden, mit einer biologischen Wurzel, die das Herder schon vor zweihundert Jahren vermutet hat. Jenes Beziehungsdreieck von Sprache, Denken und Wirklichkeit bzw. das Netzwerk von Sprache, Kultur und Verhalten zeigt jedoch die Kontingenz sprachlichen Ausdrucks, endet aber im Kulturrelativismus.
      Außerdem ist Whorf eine gewisse Schriftvergessenheit zu konstatieren:Es ist der Unterschied zwischen Oralität und Literalität, der die Eigenschaften der Erfahrungswelt different hervortreten läßt: Definitionen, analytische wie kategorisierende Begriffe und Abstraktionen sind Produkte einer alphabetisierten Wirklichkeit, einer Schriftkultur, in welcher Zeichen und Bezeichnetes nicht mehr durch Direkterfahrungen aneinander fixiert sind. Der "Kulturbruch", der verschiedene Wirklichkeitsbezüge bedingt, besteht zwischen oraler Welt und der Welt einer Schriftkultur. Und so gesehen haben übrigens die Bewohner der Alpenregionen ebenso viele Worte für 'Schnee' wie die Eskimos.
       

      LITERATUR:
      Edward Sapir: Language, New York 1921 (zit. nach der deutschen Ausgabe: Die Sprache. Eine Einführung in das Wesen der Sprache, München 1972)
      Benjamin Lee Whorf: Language, Thought and Reality, Cambridge MA 1956 (zit.: Sprache, Denken, Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie, Reinbek 1963)
      Stephen Pinker: The Language Instinct, 1994 (Penguin)