Hartmann / Philosophische Grundlagen 2.2.

    Kultur und technische Reproduzierbarkeit


    Während S. Freud von den 'Prothesen' als Hilfsorganen sprach, die sich der Mensch zwecks Bewältigung der modernen Situation zugelegt hat (vgl. Thema 1), betonen die Gesellschaftskritiker Max Horkheimer und Herbert Marcuse den "affirmativen Charakter aller Kultur" (Mitte 30er-Jahre).
    In dieser frühen Diskussion der gesellschaftlichen Rolle von Medien und Populärkultur wurden ebendiese zu den "Fetischen" gezählt, "mittels derer die Massen bei der Stange gehalten werden". Kultur insgesamt wäre das Reservat des schönen Scheins, der Genuß oder das fiktive Glück, das die Menschen Arbeit und reales Elend überhaupt noch aushalten läßt. Neue oder andere Ausprägungen der Kultur, die sich verstärkt durch Medien vermittelt (Kino, Radio) werden als "Regression" angesehen. Die ideologiekritische Analyse (Kritik der Kulturindustrie) müßte diese Illusionen zerstören. Die technische Entwicklung der Medien bedeutet in diesem Kontext nur eine Steigerung der Verblendungsmöglichkeiten und damit eine Depotenzierung aufklärerisch-emanzipatorischer Hoffnungen: mit dieser Einschätzung wurde Marcuse in den sechziger Jahren zur Symbolfigur einer rebellischen Gegenkultur.

    Ebenfalls Mitte der dreißiger Jahre und wie Marcuses Beitrag auch in Horkheimers 'Zeitschrift für Sozialforschung' publiziert, entstand Walter Benjamins berühmt gewordener Essay über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit". Benjamin diagnostiziert hier einen Funktionswandel der Kunst auf der materialen Grundlage einer Veränderung der Reproduktionstechniken. Benjamin war sensibel genug, um darin auch neue Möglichkeiten zu sehen: Der Film wurde als die fortgeschrittenste künstlerische Produktionstechnik analysiert und wie die Fotografie als Möglichkeit nicht bloß neuer Funktionen, sondern auch neuer (d.h. einer nicht-kontemplativen) Erkenntnis gesehen. "Die Art und Weise, in der die menschliche Wahrnehmung sich organisiert - das Medium, in dem sie erfolgt - ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt . . . Und wenn die Veränderungen im Medium der Wahrnehmung, deren Zeitgenossen wir sind, sich als Verfall der Aura begreifen lassen, so lassen sich dessen gesellschaftliche Bedingungen aufzeigen."

    Die Krise des bürgerlichen Kulturmodells und die Veränderung der kulturellen Werkzeuge bedingen sich gegenseitig: Benjamin spricht von einer epochalen "Erschütterung des Tradierten" durch die Reproduktionstechnik. Damit ändert sich die philosophische Ästhetik, die nicht reine Wissenschaft von der Wahrnehmung sein kann, sondern gesellschaftliche oder technische Bedingungen beinhaltet (die Kunst ist nicht mehr dem Reich des schönen Scheins verpflichtet, das Kunstwerk verliert seine Aura der Einmaligkeit, und das Wahrnehmungssubjekt wird dezentralisiert).

    1. Ästhetik des Kunstwerks: Versenkung im Kunstritual, Bestätigung des Einzelnen über die magische Aura der Einmaligkeit - Sich versenken im Kunstwerk. Die neuen Speichermedien stellen das 'Original' in einen anderen Zusammenhang.
    2. Ästhetik der Massenmedien: Zerstreuung, Ablenkung, Aufgehen des Einzelnen in der Massenwahrnehmung - Das Kunstwerk wird in der zerstreuten Masse versenkt.

    Die technische Reproduzierbarkeit schafft neue Realitäten, die Kamera 'entdeckt' z.B. das Optisch-Unbewußte (analog zur Psychoanalyse...); Technik ermöglicht Dinge, die sich der bewußten Wahrnehmung entziehen (Zeitachsenmanipulation).
    Benjamins Aufsatz versteht sich vor allem auch als ein Beitrag zur Filmtheorie, da mit dem Kino nur noch aus den Austellungswert des Kunstwerks gesetzt wird. Der Film ist eine besondere Technik in der Kunst, nämlich die "Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks". Benjamin sieht darin nichts Grundlegend Negatives: so betont er auch im Essay "Kleine Geschichte der Photographie", daß es weniger um die Versuchung gehe, den "Verfall des Kunstsinns" zu beschwören als vielmehr darum, in der mechanischen Reproduktion dem Menschen zur Verfügbarkeit, zur Herrschaft über die Werke zu verhelfen (1931).

    Benjamins Kunstwerk-Essay ist im größeren Zusammenhang mit einem Projekt zu verstehen, welches mit neuen methodischen Mitteln (Zitat, Montage, Konstellationen- erstellung) den Eintritt in die Moderne anhand einer Analyse der mannigfaltigen Oberflächensymptome zu beschreiben versucht hat: das Fragment gebliebene "Passagenwerk", dessen Fragmente inzwischen publiziert worden sind, als Buchfassung und auch als Projekt am Internet.


 
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