Hartmann / Philosophische Grundlagen 2.3.

    Antiquiertheit des Menschen


    "Wir sind invertierte Utopisten: während Utopisten dasjenige, 
    was sie sich vorstellen, nicht herstellen können, 
    können wir uns dasjenige, was wir herstellen, nicht vorstellen." 
    - Günther Anders

    Daß die technische Reproduzierbarkeit von Kunstwerken ein gesellschaftliches Potential beinhaltet, war das Resultat der medientheoretischen Reflexion Walter Benjamins (vgl. Thema 2). Seine Zeitgenossen sahen das nicht unbedingt so: die zeitdiagnostische Kulturkritik nimmt gern apokalyptische Züge an, wenn sie sich mit den neuen Medien befaßt (auch heute wieder...) Dazu gehört Günther Anders, ein Außenseiter der neueren Philosophiegeschichte, der sich bis ins hohe Alter polemisch einzumischen pflegte und zuletzt noch in der Anti-Atombewegung aktiv war (er war tätig im War Crimes Tribunal von B. Russell). Sein maßloser, übertreibender Gestus macht die Lektüre oft schwer verdaulich - hat jedoch folgende Methode: durch Übertreibung Wahrheiten ans Licht zu bringen. Seine Thesen klingen heute teils wie Gemeinplätze, was mit einer "stillen Rezeption" zu tun hat: Susan Sontag etwa oder Neil Postman schulden Anders mehr, als sie in ihren Texten kenntlich machen.

    Anders, Sohn des Psychologen William Stern ("Anders" war das journalistische Pseudonym), studierte in den frühen zwanziger Jahren bei Husserl und Heidegger. Bis 1936 (Emigration USA) verheiratet mit Hannah Arendt. Jobs u.a. als Requisiteur in Hollwood, kommt 1950 nach Wien, wo er 1989 starb.

    Anders beabsichtigte 1927 vergebens, mit einer "Phänomenologie des Zuhörens" zu habilitieren. In seinem Hauptwerk wird dann jedoch eine "Phänomenologie des Fernsehens" enthalten sein: Die Welt als Phantom und Matrize. Seine Philosophie des technischen Zeitalters ist eine negative Anthropologie, nach der der Mensch nicht bestimmt festgelegt ist (= negative Freiheit im Existentialismus). Ihre Ausgangsfrage lautet: wie strukturieren Medien die akustischen und visuellen Wahrnehmungen der Menschen? Ihre These ist das Verschwinden des Menschen hinter seinen technischen Triumphen: das Herstellen überlagert Vorstellen. Das Reproduzierte verändert seine Konsumenten negativ, da sie ihm die Wirklichkeit vorenthält und ihnen stattdessen Surrogate bietet. Das Fernsehen produziert einen neuen Menschentypus, denn es vermittelt nicht Wirklichkeit, sondern schafft wirklichkeitsanaloge Situationen.

    Dieser Reflexion zugrunde liegt eine radikale Neubewertung der Eigendynamik unserer Technik: Der Mensch stellt sich eine bedürfnisstillende Welt her, die dann aber über seine Bedürfnisse weit hinausreicht. Zwischen den Menschen und ihren Produkten entsteht ein Gefälle besonderer Art - Anders diagnostiziert eine 'promethische Scham' angesichts der "Tatsache der täglich wachsenden Asynchronisiertheit des Menschen mit seiner Produktewelt" - die menschliche Vorstellungskraft hält mit dem Potential der Maschinen einfach nicht mehr mit. Die vom Medium des Fernsehens erzeugte Welt ist zugleich Phantom (weder unmittelbare Realität noch deren Abbild) und Matrize (d.h. die Welt wird danach geformt, das konstruierte Pseudo-Abbild wird zum Vorbild der neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit). Anders erkennt wesentliche Momente einer "Medienwirklichkeit" zwischen Sein und Schein, zwischen Realität und deren Abbild. Weitere Thesen in Stichworten:
     

    • Das Wirkliche wird erst über seine Abbildung wirklich (Photographie)
    • Die Wirklichkeit der Bilder ist ein Substitut für die genuine Welterfahrung
    • Nachrichten übertragen keine Informationen, sondern sind bereits vorgefaßte Urteile, Rezipienten können über die gebotenen Informationen nicht verfügen
    • Fernsehen ist kein Medium, sondern eine Maschine zur Produktion von Wirklichkeitsanalogien, die wirklicher als die Wirklichkeit sind (Serien!)
    • Menschen, die sich nicht mehr selbst artikulieren, werden infantilisiert und um ihre Subjektivität betrogen.
    Anders beklagte selbstverständlich den Sprachverlust, die Bilderflut und das "postliterarische Analphabetentum"; allerdings wurde er durch den Lauf der Zeit korrigiert. Seine Analysen sind philosophisch-weltfremd, abgehoben von der realen Mediensituation, mit der er sich nicht als Forscher auseinandergesetzt hat (er war stolz darauf, nie mehr als ein paar Minuten frengesehen zu haben).
    Es ging ihm doch um eine fundamentale "Kritik der Grenzen des Menschen" angesichts der Technik. Aber auch um politisches Engagement, wie eingangs erwähnt, und in diesem Zusammenhang stellt er fest:
     
      "Meine damaligen Thesen (erfordern) eine Ergänzung, und zwar eine ermutigende: Unterdessen hat es sich nämlich herausgestellt, daß Fernsehbilder doch in gewissen Situationen die Wirklichkeit, denen wir sonst überhaupt nicht teilhaftig würden, ins Haus liefern und uns erschüttern und zu geschichtlich wichtigen Schritten motivieren können. Wahrgenommene Bilder sind zwar schlechter als wahrgenommene Realität, aber sie sind doch besser als nichts. Die täglich in die amerikanischen Heime kanalisierten Bilder vom vietnamesischen Kriegsschauplatz haben Millionen von Bürgern die auf di Mattscheibe starrenden Augen erst wirklich 'geöffnet' und einen Protest ausgelöst, der sehr erheblich beigetragen hat zum Abbruch des damaligen Genozids." (Vorwort zur 5. Auflage der "Antiquiertheit des Menschen", 1979)


 
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