Hartmann / Philosophische Grundlagen 1.1.

      Der Geist der Moderne

      Einleitende Bemerkungen zu Rationalismus und Methode 


      Im Vorfeld der Moderne setzt sich eine ordnende Vernunft durch, die wir als Cartesianismus kennen. Die neuzeitliche Wissenschaft enstammt dem cartesianischen Geist: d.h. Klarheit und Ordnung, Eindeutigkeit und Ernsthaftigkeit sowie ein von der ganzheitlichen Betrachung unterschiedenes, schrittweises Vorgehen determinieren den Forschungsprozeß. 

      Es ist diese methodische Disziplinierung, die laut René Descartes (1596-1650) nicht nur den subjektiven Verstand kultivieren hilft, sondern durch Reflexion über systematische Begründungsmöglichkeiten im Wissensprozeß eine Objektivität erzeugt, die -- selbst aus dem systematischen Zweifel geboren -- jeglichen Zweifel eliminieren soll. 

      Zu dieser Programmatik gehört das Festlegen allgemein verbindlicher, ‘vernünftiger’ Maßeinheiten als rekonstruierbare Determinanten des Wissenschaftsdiskurses. Im Prozeß einer methodischen Konzentration auf das Meßbare dekontextualisiert sich wissenschaftliche Theorie zunehmend von ihren Anwendungszusammenhängen (vgl. Toulmin 1990) und schafft sich neben dem Problem des Werkzeugs damit auch ein Problem der normativen Grundlagen: da sich die kommunikative Einheit des traditionellen Weltbildes im Zeitalter der Emanzipation des Bürgertums von traditionell verbürgten Mustern oder natürlichen Gegebenheiten auflöst, entsteht eine in ihren gesellschaftlichen Auswirkungen spürbar werdende Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Theorie und sozialer Praxis. Kennzeichen der Moderne daran ist, daß der erkenntnistheoretische Beweis mit methodischer Systematik die theologische Argumentation ersetzt: 

      “Wenn Ungewißheit, Vieldeutigkeit und Pluralismus in der Praxis nur zu einer Verschärfung des Religionskrieges führten, dann war jetzt die Zeit gekommen, um endlich eine rationale Methode ausfindig zu machen, mit der man die so lebenswichtige Richtigkeit oder Unrichtigkeit philosophischer, wissenschaftlicher und theologischer Lehren beweisen konnte.” (Toulmin)

      Die philosophischen Probleme der Moderne beziehen sich alle direkt oder indirekt auf den cartesianischen Dualismus oder die Unvermitteltheit von geistiger und körperlicher Welt. Dies ist ausschlaggebend für die wissenschaftliche Rationalität, die nur durch eine Emanzipation von theologischen Belangen möglich wurde: empirische Forschung ohne Restriktionen durch religiöse Instanzen. Es war in diesem Sinne aufgeklärtes Denken, an dem heute jedoch die mehr restriktiven Züge hervorgehoben werden. 

      Damit ist die Voraussetzung der Schriften von Descartes umschrieben, in denen nur das abstrakte Denken als Wahrheit anerkannt wird - auf der Grundlage dessen, was 'klar und deutlich' erkannt werden kann. Die Wissenschaftsgeschichte verzeichnet hier einen Neubeginn, der allgemein mit der Loslösung vom gesellschaftlichen Kontext beschrieben wird.

      Descartes Philosophie steht metaphorisch für den Übergang von der humanistischen zur rationalistischen Epoche des abendländischen Denkens im frühen 17. Jahrhundert. Der Übergang vom Reanaissance-Humanismus zum Rationalismus verläuft der Abschied von der Renaissance im wissenschaftlichen Diskurs laut Stephen Toulmin (Kosmopolis, 1991) in folgenden vier methodischen Schritten:
       
       

         
      • Vom Mündlichen zum Schriftlichen: logische Argumente statt ausschmückender Rede
      • Vom Besonderen zum Allgemeinen: allgemeine Grundsätze statt fallbezogener Beispiele
      • Vom Lokalen zum Globalen: Universalismus statt praxisbezogener Fragen
      • Vom Zeitgebundenen zum Zeitlosen: Übergeordnete Fragen statt kontextueller Geltung
         

        descartes.gif (46645 Byte) Überblick zu Descartes Schriften: 
         
        Regulae ad directionem ingenii 
        (Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, Fragment, ca. 1628) - Methodologische Beschränkung auf die Frage nach der Einheit der Wissenschaft; weiters auf die Grenzen der menschlichen Erkenntnis. Vorstellung des Dualismus: wir, die wir erkennen 
        -versus- die Dinge, die erkannt werden sollen. 
        Discours de la méthode 
        (De la Methode pour bien conduire sa raison, & chercher la verité dans les sciences, 1637 anonym erschienen) - Anfang einer Programmatik der selbstgenügsamen Vernunft und der abstrakten Fundamente des Wissens, die gegenwärtig in die Krise geraten ist. 
        Meditationes de Prima Philosophia 
        (Meditationen über die Grundlagen der Philosophie ... quibus die existentia et anime humanae a corpore distincto demonstrantur = in denen das Dasein Gottes und der Verschiedenheit der menschlichen Seele vom Körper bewiesen werden, Paris 1641)

      Descartes löst das Problem der Erkenntnissicherheit kognitiv: was wir zu wissen beanspruchen können, worüber also kognitive Zuverlässigkeit zu erreichen ist, ist auf klare und deutliche Ideen aufgebaut, die wir von unzuverlässigen Überzeugungen (aus der Gesellschaft und der Kultur - vgl. dazu Gellner 1995) reinigen müssen. Dazu dient die "Methode", über die wir unsere Vernunft kultivieren. Sie erzeugt jene geordnete Welt, die fortan für uns erkennbar ist.

      Effekte der cartesischen Philosophie sind: eine dualistische Grundstruktur der Erkenntnis, die strikt zwischen Körper und Seele, zwischen Materie und Geist trennt. Eine Folge dieser Trennung ist in den Geisteswissenschaften ein starker Theoriebegriff, der das Metaphysische (das 'über der Natur' Stehende) privilegiert. In den Naturwissenschaften drückt sie eine Befreiung aus, als Öffnung von neuen Forschungswegen - der Körper ist nicht länger sakrosankt, der medizinische Eingriff beispielsweise "berührt nicht die Seele". Dies erlaubt den Fortschritt der Wissenschaften in disziplinärer Arbeitsteilung, erzeugt aber auch die Restriktionen einer isolierten Betrachtungsweise, zum Beispiel die 'seelenlose Apparatemedizin'.

      Kommunikationstheoretisch sollten wir uns aus zwei Gründen den cartesianischen Ansatz vergegenwärtigen:

         
      • Er ist prägend für ein Weltbild, in dem Rationalität und Linearität (cartes. Koordinaten) zentrale Momente bilden, und damit Grundlage ist für die 
      • Mechanisierung des Denkens durch die Methode, womit Denken sozusagen in die Gesetze der Mechanik übersetzt wird.

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      Referenzen: 
      Toulmin, Stephen: Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991
      Gellner, Ernest: Descartes & Co. Von der Vernunft und ihren Feinden, Hamburg: Junius 1995
       
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      © Frank Hartmann 1998