Hartmann / Philosophische Grundlagen 1.6.

    Sprachkritik: Fritz Mauthner



     
     
    Anfang der dreißiger Jahre läßt sich der fast erblindete James Joyce in Paris von Samuel Beckett aus einem Werk vorlesen, das seine Radikalität hinter einem altbackenen und bescheidenen Titel verbirgt: den "Beiträgen zu einer Kritik der Sprache" Fritz Mauthners.
    (Aus der Einleitung zur Neuausgabe von L.Lütkehaus) 
    Fritz Mauthners (1849-1923) Ansatz radikalisiert die sogenannte Sprachabhängigkeitsthese (vgl. Thema 1.5.), nach der Sprache die historische Bedingung allen Denkens ist, indem er die Erkenntniskritik zu einer Kritik der Sprachherrschaft (er nennt es Logokratie) erweitert. "Kritik der Vernunft muß Kritik der Sprache werden. Alle kritische Philosophie ist Kritik der Sprache." 

    Die "Philosophie" ist für Mauthner - wie er in seinem 1997 neu augelegten "Wörterbuch der Philosophie" (1910) schreibt, eine Arbeit an abstrakten Begriffen, die es einem leicht mache, in "skeptische Resignation" darüber zu verfallen, was wir überhaupt wissen können, und ist somit 

    "die Einsicht in die Unannehmbarkeit der Wirklichkeitswelt, ist keine Negation, ist unser bestes Wissen; die Philosophie ist Erkenntnistheorie, Erkenntnistheorie ist Sprachkritik; Sprachkritik aber ist die Arbeit an dem befreienden Gedanken, daß die Menschen mit den Wörtern ihrer Sprachen und mit den Worten ihrer Philosophien niemals über eine bildliche Darstellung der Welt hinaus gelangen können." (Mauthners Einleitung zu: Wörterbuch der Philosophie)

    Gegenstand der Kritik ist die Möglichkeit einer Wirklichkeitserschließung durch die Wortsprache; Sprache ist der ideologische Schleier, der sich über die Wirklichkeit legt. 
     

    "Im Anfang war das Wort." Mit dem Worte stehen die Menschen am Anfang der Welterkenntnis und sie bleiben stehen, wenn sie beim Wort bleiben. Wer weiter schreiten will, auch nur um den kleinwinzigen Schritt, um welchen die Denkarbeit eines ganzen Lebens weiter bringen kann, der muß sich vom Worte befreien und vom Wortaberglauben, der muß seine Welt von der Tyrannei der Sprache zu erlösen versuchen.
    (Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 1. Band)
     
     

    Die sprachliche Realität ist mächtiger als gemeinhin angenommen wird: in einer Art Wiederbelebung des mittelalterlichen Nominalismus untersuchte Mauthner ideologiekritisch die sprachlichen Realabstraktionen, die sich dennoch in der Realität bestimmend auswirken; er nannte das den Wortaberglauben. Mauthner bekämpfte "die absurden Ungeheuer der Sprache". Der Fortschritt der Menschheit (Aufklärung) hängt davon ab, wie sehr sie ihre eigenen Wortfetische erkennen und damit ihre gesellschaftliche Konstruiertheit durchschauen kann. Mauthners Sprachkritik enthält die Pointe, daß Sprache an der Realität zu messen sei und nicht Realität an den sprachlichen Begriffen. Sprache ist ein ungeeignetes Erkenntnisinstrument, da wir durch sie und unsere Sinne nur einen zufälligen Ausschnitt der Welt kennenlernen. Unsere Erkenntnisbedingungen sind sprachlich/grammatikalisch bedingt. 

    "Einge Wochen lang verbrachte ich die halben Nächte damit, meine Flüche hinzuwühlen darüber, daß wir so gar nichts wissen können, daß die menschliche Vernunft gar kein anders Ausdrucksmittel hat als die elende Sprache, daß die Sprache ein Handwerkszeug ist, mit dem wir an nichts Wirkliches herankommen können, weder an die Natur noch an unsere eigenen Empfindungen." (Mauthner über seine Anfänge der Sprachkritik, in: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig: Meiner Verlag, 1922, Seite 126)

    Mauthner entwirft folgende 3-Welten-Theorie: Die Ordnung der Dinge ist nach Mauthner ein Konstrukt zwischen Subjektivität und Wirklichkeit, welches über drei verschiedene, in der Sprache repräsentierte Modi funktioniert:

    • das Adjektiv den Wahrnehmungseindrücken,
    • das Verb entspricht den verbindenden Aktivitäten,
    • und das Substantiv den (fiktiven) stabilen Gestalten.
    Letzteres ermöglicht den Bereich des Wortaberglaubens, der willkürlichen Festschreibungen. Eine Möglichkeit der objektiven Erklärung ist hier ausgeschlossen, denn die Sprache wirkt wie ein ideologisches Gefängnis. Auch die Wissenschaften erklären nichts, sie beschreiben nur. 
     
     
     
    Welt 1 Sinneseindrücke Eigenschaften der Dinge ADJEKTIVISCH
    Welt 2 Handlungen, Bezüge Zeit und Bewegung VERBAL
    Welt 3 Theorien, Fiktionen Wissenschaft, Religion SUBSTANTIVISCH
    Hintergrund Schweigen gottlose Mystik Jenseits der Sprache

     

     "Wir haben nur Worte, wir wissen nichts" (Mauthner). Es gibt weder eine Ursprache noch eine Idealsprache, nur der jeweilige Gebrauchsaspekt der Sprache zählt. Damit setzt sich Mauthner in die Tradition der großen philosophischen und meist materialistischen Außenseiter, die das neunzehnte Jahrhundert hervorgebracht hat: Schopenhauer, Feuerbach, Marx, Nietzsche. Daß die offizielle (akademische) Philosophiegeschichtsschreibung dies nicht bestätigt, tut der Sache keinerlei Abbruch.

    Mauthner hat in seinem Leben drei große Projekte verfolgt: ein dichterisches (er war Literat, Kritiker, Journalist, Dramatiker), ein geschichtliches (Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, 4 Bände, 1920ff, Neuauflage 1989) und ein erkenntniskritisches (Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 3 Bände, 1896ff / Wörterbuch der Philosophie, 2 Bände, 1910ff, Neuauflage 1997)
     

    WEBSITE der MAUTHNER-GESELLSCHAFT

    (Verein der Sprachkritiker. Mit zahlreichen Texten zum Download!)

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