Hartmann / Philosophische Grundlagen 1.3.

      Subjekt und Bewußtsein


      In Kants Philosophie drückt sich eine Entdeckung aus, die das Empfinden des 18. Jahrhunderts zum Ausdruck bringt: die grundsätzliche Mediatisiertheit  der Welt, die uns nicht direkt gegeben ist, sondern über spezifische Kategorien vermittelt.

      Das Orientierungsgefüge der Neuzeit weist einige gravierende Veränderungen aus, die in der Philosophie ihren Niederschlag finden:

      Kosmische Entdeckungen - das heliozentrische Weltbild relativiert die Stellung der Menschen im Kosmos
      Territoriale Entgrenzungen - Kreuzzüge, Entdeckungen und Eroberungen verändern das Weltbild durch den Kontakt mit anderen Kulturen
      Neue Kulturtechniken - Druck, Zeitungen, Bücher, Lesegesellschaften und die Alphabetisierungswelle haben entprovinzialisierende Wirkung
      Dekontextualisierung der Reflexion - der universalistische Anspruch der Aufklärung vereint die Denker jenseits sozialer Zwänge in der Verpflichtung auf die Gelehrtenrepublik, in welcher das Denken eigenständig sein soll und die Wahrnehmung kosmopolitisch

      Damit stellt sich die Frage, was wir überhaupt mit Sicherheit von der Welt wissen können. Die Frage als solche ist ein Produkt des dualisierenden Denkens, welches die Wirklichkeit in Geist und Materie, in Natur und Bewußtsein trennt. Kultur und Gesellschaft werden dabei nicht mehr statisch gesehen, sondern dem Fortschrittsdenken unterworfen – einem wissenschaftlichen Fortschrittskonzept, das nicht allein auf empirischem Wissen (Beobachtung) beruht, sondern auch auf der Entwicklung von Theorien, die der unmittelbaren Beobachtung zunächst einmal widersprechen. 

      Dem Zeitalter der Aufklärung wird damit auch deutlich, daß ein verbindlicher Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis (bzw. zwischen subjektiver Wirklichkeit und objektiver Welt) verlorengegangen ist; im ‘modernen’ Subjekt soll dieser Zusammenhang neu gestiftet werden. Kants Fragestellung läßt sich wie folgt paraphrasieren: 
       

      I. Kant (14197 Byte)Woher kommt diese menschliche Fähigkeit zum Hervorbringen von Erkenntnissen und zum richtigen Handeln, die nicht identisch ist mit dem bewußten Willen des Einzelnen, aber doch wieder jedem einzelnen Willen zu eigen ist?

      Immanuel Kant (1724-1804)
       
       

      Seine Antwort gibt Kant in der Bestimmung der transzendentalen Subjektivität, die durch die ästhetischen und die logischen Kategorien gegeben wird. Hiermit werden sozusagen die Regeln des Denkens bestimmt – damit unser Verstand aus den Erfahrungselementen eine Erkenntnis synthetisieren kann, muß er diese mittels der Kategorien verknüpfen. Es gibt keine äußere Garantie für Erkenntnis, die wird also vom Subjekt selbst "gestiftet": die Welt zerfällt in ein "An sich" und ein "Für uns", da wir die Dinge eben nicht erkennen können, wie sie an sich sind, sondern nur anhand ihrer Erscheinung (phänomena): Denken folgt seinen eigenen Gesetzen, nicht einer verborgenen Struktur der Dinge. 

        Kritik/Titel.gif (4803 Byte)„Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuchte es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten", aus Kants Vorrede zur "Kritik der reinen Vernunft" (1781)
      Das Subjekt der Aufklärung ist ein vernunftgeleitetes Subjekt, Vernunft liefert die gemeinsame Grundlage der subjektiven Existenz. Die Forderung nach der Öffentlichkeit des Vernunftgebrauchs rückt das Unternehmen der Aufklärung ab von einzelsubjektiven Träumen der Einbildungskraft, weiters von traditionellen oder falschen Autoritäten, und rückt sie in das Licht eines kollektiven Fortschritts der Menschheit, zu dem wir individuell beitragen können. Kant radikalisiert gewissermaßen den grundlegenden Dualismus von Geist / Materie (Diesseits / Jenseits, oder auch: Sein / Schein) in einer Philosophie der tranzendentalen Subjektivität, in der zeitabhängige und uns zugängliche Erscheinungen abhängig gemacht werden von einer universalen, reinen Grundstruktur vernünftigen Daseins, jenseits von Geschichte und Konventionen. 

      Es ist das Ich, das reflexive Bewußtsein, das diese Welt zusammenhält: im "Ich" sammelt sich die Welt, und dieses subjektive Ich "bindet die verschiedenen Wahrnehmungen zusammen, so daß sie eine Einheit bilden. Kant versucht, diese bindenden Aktivitäten mit Genauigkeit zu verzeichnen. Für ihn sind diese Tätigkeiten wirklich das Selbst." (Gellner 1995)

      Kant formuliert in seiner theoretischen Philosophie die Art und Weise, wie wir uns ein Bild von der Welt machen. Er formuliert damit die Einsicht, daß unsere Wahrnehmung von den Dingen mit der Struktur unseres Verstandes korrespondiert, und nicht mit der Struktur der Dinge! 


      Überblick zu einigen Schriften Kants (Online-Texte Kants bei Projekt Gutenberg DE)

      1766 - Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik
      Gegen den Betrug an der Vernunft, den 'Geisterseher' wie Emanuel Svedenborg geleistet haben: eine Art Pamphlet gegen Esoterik und Parapsychologie, als vorbereitende Lektüre zur große Kritik bestens geeignet.

      1781 - Kritik der reinen Vernunft
      Untersuchung über die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, die nicht in der objektiven Welt liegen, sondern im Subjekt selbst, als eine Art angeborenen Filter der apriorischen Ideen: das Chaos der Sinneswahrnehmung wird durch ästhetische Kategorien (Raum/Zeit), logische Kategorien (Urteilsformen der Quantität, Qualität, Relation, Modalität) und Ideen der reinen Vernunft (Seele, Welt, Gott) geordnet. Wir haben es mit einer subjektiven Erscheinungswelt zu tun, die Dinge an sich lassen sich nicht erkennen.

      1783 - Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik
      Ein Versuch, die Kritik der reinen Vernunft populär darzustellen. Lesenswert hinsichtlich der Detailerörterungen zB. zu apriorischen/aposteriorischen Urteilen.

      1784 - Was ist Aufklärung?
      Das berühmte Plädoyer für eine Reform der Denkungsart, die individuell geleistet werden soll. Forderung der Rahmenbedingungen für Mündigkeit, etwa die nach publizistischer Öffentlichkeit.

      1785 - Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
      Die Methode aus der Kritik der reinen Vernunft wird auf den Bereich der Ethik angewandt: führt zur Kritik der praktischen Vernunft

      1788 - Kritik der praktischen Vernunft
      Bestimmung der Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit: nach den formalen Bedingungen für das Erkennen wird hier nach denen des Handelns gefragt. Die Formulierung des inneren moralischen Gesetzes findet einen apriorische Größe, den kategorischen Imperativ. Daneben bestimmen, als Forderungen der Vernunft, aprioroische Postulate unser Handeln (die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit). 

      1790 - Kritik der Urteilskraft
      Die Idee der Zweckmäßigkeit soll Natur- und Freiheitsbegriff vereinen und die Kritik der reinen mit der Kritik der paraktischen Vernunft vereinen.


      "Erkenntnis" wird in jener Zeit als ein Akt des Subjekts durchschaut, das dabei gleichwohl allgemeinen Regeln (gemeinsame Grundbefindlichkeit des Menschseins) verpflichtet ist. Mit der Neuzeit entwickelt sich ein dezentriertes Weltverständnis, die Wissensbereiche spalten sich auf - Wissenschaft, Politik und Kunst gehen ihren je eigenen Weg in die "Expertenkultur" einer entzauberten Moderne (vgl. Jürgen Habermas Erörterungen zum nachmetaphysischen Denken). Der architektonische Aufbau von Kants dreifacher Vernunftkritik folgt im gleichsam zeitdiagnostischen Reflex diesem Schema:  

      Vernunftfragen Diskursform Wertsphäre Kants Kritik der Kulturen der Moderne
      Was kann ich wissen? Kognitiv:Theorie Das Wahre reinen Vernunft Wissenschaft, Technik
      Was soll ich tun? Normativ:Praxis Das Gute praktischen Vernunft Recht und Moral
      Was darf ich hoffen? Ästhetik Das Schöne Urteilskraft Kunst und Kritik